Nach ihren Sieg im Bürgerkrieg hatte sich die neue Sowjetmacht darum bemüht, die Loyalität der verbliebenen Randvölker und Diaspora-Gruppen durch die Einrichtung sprachnational definierter Territorien und die Förderung ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Interessen zu gewinnen. Auf die Kollektivierung der Landwirtschaft seit 1929 antworteten jedoch sowohl die sogenannten „westlichen Nationalitäten“ wie die Polen und Deutsche als auch die sogenannten „östlichen Nationalitäten“ wie Aserbeidschaner, Kasachen, Koreaner und Chinesen mit der Flucht aus der Sowjetunion oder mit Aufständen. Schockiert erkannte die Führung, dass sich die nationalen Minderheiten nicht als Werbeträger für das sowjetische System einspannen ließen.
Zur endgültigen Wende in der Nationalitätenpolitik kam es durch die innen- und außenpolitische Entwicklung der Jahre 1933/1934, nämlich durch die „ukrainische Krise“ mit Russifizierung und Hungersnot, durch den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt und durch das Vordringen der Japaner in die Mandschurei und nach China. Der sogenannten „Entkulakisierung“, also der Deportation wohlhabender Bauern in unwirtliche Gebiete des Nordens und Ostens, folgten seit 1935 „nationale Operationen“: Nationalitäten, die in den Grenzgebieten siedelten oder ein „Mutterland“ jenseits der Grenzen hatten, vor allem Polen, Deutsche und Koreaner, wurden nach Kasachstan und Zentralasien transportiert. Der „große Terror“ der Jahre 1937-1938 richtete sich nicht mehr nur gegen „Klassenfeinde“, sondern gegen ganze Nationen.
Infolge des Hitler-Stalin-Pakts eignete sich die Sowjetunion 1939/ 1940 Gebiete im Westen wieder an, die das Zarenreich nach dem 1. Weltkrieg verloren hatte. Noch vor dem deutschen Angriff wurden 1,2 Millionen Menschen, insbesondere aus der den Führungsschichten, aber auch Bauern aus Polen, dem Baltikums und aus Bessarabien deportiert. Die meisten Karelier konnten von den finnischen Behörden noch rechtzeitig evakuiert werden. Nach dem deutschen Angriff am 22. Juni 1941 wurde die deutschsprachige Bevölkerung des gesamten europäischen Teils der Sowjetunion, wiederum 1,2 Millionen Menschen, und ebenso die Finnen Nordwestrusslands nach Osten verfrachtet. Etwa ein Drittel der deportierten Deutschen musste ab 1942 Zwangsarbeit in der sogenannten „Arbeitsarmee“ leisten.
Nach der Rückeroberung des an Hitler verlorenen Territoriums ließ Stalin seit 1943 eine große Zahl von Ukrainern, Litauern, Letten und Esten in den hohen Norden und nach Osten deportieren, um deren nationalen Widerstand gegen die Rückgliederung in die Sowjetunion auszutrocknen. Es gab aber auch Nationalitäten, die unter dem Vorwurf der Kollaboration mit den deutschen Faschisten in ihrer Gesamtheit nach Sibirien, Kasachstan und Zentralasien abtransportiert wurden. Ihre Wohnorte wurden von Einheiten des NKVD umstellt, die Familien in Viehwaggons an ihre Verbannungsorte gebracht, die Rotarmisten der entsprechenden Nationalität aus der Armee entlassen und ebenfalls deportiert. Ihre autonomen Republiken und Gebiete wurden aufgehoben und anderen ethnischen Gruppen überlassen.
Vertreibungen und Deportationen in der Sowjetunion und in Hitlers Reich verfolgten unterschiedliche Ziele, hatten aber auch Gemeinsamkeiten, nämlich den rücksichtslosen Umgang mit Menschen, Volksgruppen und Völkern. Was der NS-Staates vorhatte, geht aus seinen bekannten Plänen hervor: Ostmitteleuropa sollte in das „großgermanische Reich“ eingegliedert werden, die Deportation „fremder“ Völker sollte Platz schaffen für die Ansiedlung von Deutschen („Volk ohne Raum“) und „rassisch“ nahestehenden Gruppen. In einer Rede am 6. Oktober 1939 forderte Hitler eine ethnographische Neuordnung Europas, nämlich eine Umsiedlung der Nationalitäten so, dass sich nach Abschluss der Entwicklung bessere Trennungslinien ergäben, als dies bis heute der Fall sei. Denn der ganze Osten und Südosten Europas sei mit Splittern des deutschen Volkstums durchsetzt. Darin liege ein Grund für fortgesetzte zwischenstaatliche Störungen.
Stalins Vertreibungen innerhalb der Sowjetunion
Die Forderung nach nationaler Homogenisierung nach dem 2. Weltkrieg ergab sich zum einen aus den Konflikten zwischen den Nationalstaaten der Vorkriegszeit und ihren Minderheiten – vor allem (wenn auch nicht nur) mit deutschen Minderheiten. Zum anderen hielt, nach den grausamen Erfahrungen unter deutscher Besetzung, kaum jemand eine Rückkehr zum Minderheitenschutz des Völkerbundes für möglich. Andererseits hatten Hitler und Stalin in ihren Besatzungsgebieten vorgemacht, wie man Bevölkerungen deportiert und Volksgruppen auf der Landkarte herumschiebt. Ohne Hitlers Eroberungskrieg wären es zwar auch zu Deportationen innerhalb der Sowjetunion (in ihren Grenzen von 1918) gekommen, nicht aber im übrigen Europa.
Der schicksalshafte Begriff „Vertreibung“ im modernen Sinne wurde erstmals 1895 vom Vorsitzenden des „Alldeutschen Verbandes“ Ernst Hasse verwendet. Hasse forderte zum Erhalt der „Homogenität“ des deutschen Volkes die Ausgewanderten zur Rückkehr auf und wollte gleichzeitig den Zuzug Fremder unterbunden wissen. Doch das reichte ihm nicht, er empfahl zur „Germanisierung“ Deutschlands die „Vertreibung des größeren Teils der undeutschen Bevölkerung“ und die „Vorbehaltung aller öffentlichen Rechte für die Deutschen“. Mit einer Gruppe von 32 Reichstagsabgeordneten hatte er sich ein Jahr zuvor für eine entsprechende Änderung des Bundesgesetzes von 1870 zur Reichs- und Staatsangehörigkeit eingesetzt – erfolglos. Seit dieser Zeit aber verschwanden derartige Überlegungen nicht mehr aus dem geistigen Arsenal des deutschen Nationalismus.
Literatur: Hans Henning Hahn (Hg.): „Hundert Jahre sudetendeutsche Geschichte. Eine völkische Bewegung in drei Staaten.“ Frankfurt am Main 2007. Detlef Brandes: Flucht und Vertreibung (1938–1950), in: Europäische Geschichte Online (EGO), Hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2011-02-09.
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