900 Jahre Deutsche in Böhmen und Mähren (die heutige Tschechische Republik) ist seit alters eine Landschaft, in der sich die Völker begegneten. In der Spätantike siedelten hier Kelten und Germanen, im Frühmittelalter rückten Slawen in das von germanischen Stämmen verlassene Gebiet ein. Die ältesten Nachrichten erzählen von awarischer Herrschaft über die westslawischen Kleinstämme im böhmischen Becken. Die Versuche einer fürstlichen Herrschaftsbildung führten im 9. Jahrhunderts mit der Gründung des přemyslidischen Herzogtums zum Erfolg. Doch mit dem Sieg Karls des Großen über das Awarenreich Ende des 8. Jahrhunderts war Böhmen in die Abhängigkeit der deutschfränkischen Nachbarn geraten. 1002 wurde Böhmen ein Lehen des Deutschen Reichs und dies nicht als Ergebnis gewaltsamer Eroberung, sondern auf Wunsch des böhmischen Herzogs. 1198 bekam Herzog Ottokar I. vom Kaiser die erbliche Königskrone verliehen. Damit wurde er zum ranghöchsten Lehensnehmer im Reich.
Bereits im 11. Jahrhundert siedelten und handelten Deutsche in Böhmen, doch in größerem Umfang zog es sie erst seit der Mitte des 12. Jahrhunderts nach Osten. Dies war Teil des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs und einer agrarischen Erschließung Europas, der Niederländer nach Deutschland und Deutsche nach Ostmitteleuropa brachte. Die wachsende Bevölkerung drängte aus ihrer alten Heimat, überzählige Söhne suchten Land und handwerklichen Erwerb in Gebieten, die weniger dicht besiedelt waren. Die Grundherren dort warben mit Freiheitsrechten auf Rodungsland Neusiedler aus dem Westen an, um ihre Steuereinnahmen zu erhöhen. Dies führte langfristig zu einer Modernisierung, denn die Einwanderer brachten ihre modernen Agrartechniken mit, z. B. die Dreifelderwirtschaft und neue Siedlungsformen. Die Siedlungsgründung erfolgte nach deutschem Recht.
Das Neben- und Miteinander von Tschechen und Deutschen führte zu produktiven kulturellen Wechselwirkungen, aber auch zu Konflikten. Schon der erste Böhmenchronist Cosmas berichtete zu Anfang des 12.Jahrhundert nicht ohne Genugtuung von der Vertreibung aller Deutschen aus dem Herzogtum, die sich zwei Generationen zuvor ereignet haben soll. Auch die tschechische Reimchronik „Dalimil“ enthält deutschfeindliche Äußerungen. Das 1334 begründete Raudnitzer Augustinerchorherrenstift nahm nur Söhne von beiderseits tschechisch sprechenden Eltern auf. Zwei Generationen später unterschied man im Lateinischen zwischen „Böhmen“ und „wahren Böhmen“, womit mit letzteren die Tschechen gemeint waren. Der weltläufige Kaiser Karl IV., der in Prag residierte und zur „Krone Böhmens“ (Corona Bohemiae) außer Böhmen, Mähren und Schlesien auch die Lausitz, Brandenburg und Gebiete in der Oberpfalz vereint hatte, bemühte sich um einen Ausgleich der beiden Sprachgemeinschaften und empfahl seinen deutschen Beamten das Erlernen des Tschechischen.
Fremdenfeindliche Ausschreitungen gab es indes überall in Europa, etwa in London gegen die starke holländische Handelsgemeinde. Sie lassen leicht übersehen, dass das Zusammenleben der Nationalitäten die meiste Zeit friedlich und fruchtbringend war. Sprachunterschiede erschwerten die Kommunikation, fielen aber weniger ins Gewicht als ständische, soziale, politische und religiöse Unterschiede. Das zeigte sich im Hussitenaufstand, der zwar von tschechischen Unterschichten getragen und später als national-tschechische Revolution gedeutet wurde, tatsächlich aber Zulauf auch unter den Deutschen fand.
Hussitische Flugblätter wurden schnell ins Deutsche übersetzt. Auch in Deutschland selbst fand der Hussitismus Anhänger. Hundert Jahre später forderte Martin Luther den „christlichen Adel deutscher Nation“ auf, sich der „Sache der Böhmen“ anzunehmen – gemeint war die hussitische Lehre vom Kelch. Der Adel beider Nationen verständigte sich ohnehin auf Latein und sortierte sich nicht nach Nationen.
Wie jeder Krieg brachten auch die hussitischen Aufstände Tod, Verwüstung und Vertreibung. Das galt freilich für Tschechen und Deutsche gleichermaßen. Zu leiden hatte, wer katholisch bleiben wollte, doppelt leiden musste, wer dazu auch noch der Oberschicht angehörte. Ein Teil des alten deutschen Adels wurde vertrieben, ebenso reiche deutsche Bürger und Landbesitzer, sofern sie antihussitisch waren. Viele Klöster wurden gebrandschatzt, darunter auch deutsche. Auch in deutsch geführten Städten übernahmen tschechische Hussiten vielfach das Regiment. Die Hussiten überstanden fünf katholische „Kreuzzüge“ siegreich, bis sich die radikalen Taboriten 1434 militärisch geschlagen geben mussten. In der Folge kam es zu Kompromissen, die den „Ketzern“ mehr oder minder Religionsfreiheit zugestanden. Der Reichstag von 1512 gewährte den Hussiten sogar die gleichen Rechte wie den Katholiken.
Im Zuge der hussitischen Unruhen waren viele Katholiken, deutsche wie tschechische, vertrieben worden, doch nachdem sich die Verhältnisse beruhigt hatten, wanderten in die Städte wieder deutsche Handwerker zu. Unter den städtischen Neubürgern waren viele Juden, vor allem Gold- und Waffenschmiede, Geldverleiher und Wechsler, Juristen und Ärzte. Die Juden in den Städten bekamen dabei weitgehend die gleichen Rechte wie Christen. Die Grundherren warben wieder um deutsche Siedler, besonders in den gebirgigen Randgebieten. Seit der Reformation in Deutschland kamen vor allem Protestanten, die sich dem Hussitismus verbunden fühlten.
Im 16. Jahrhundert starben viele alte tschechische Adelsfamilien aus. Es gab kaiserliche Neubelehnungen für Familien aus ganz Europa, darunter auch viele deutsche. Alle bedurften aber der Zustimmung der mehrheitlich tschechischen Standesgenossen in Böhmen. Bedingung war, dass die Zuwanderer tschechisch lernten, um an den Beratungen der Landtage teilnehmen zu können. Die deutschen Adelsfamilien integrierten sich dabei schnell, ein nicht unbeträchtlicher Teil unterstützte später die Rebellion des böhmischen Adels gegen König Ferdinand II. (1618). Unterdessen erlebte das Tschechische, wie alle Volkssprachen in Europa, im 16. Jahrhundert eine kulturelle Blüte. Was den Deutschen die Luther-Bibel war, wurde für die Böhmen die 1579-1588 veröffentlichte Kralitzer Bibel. Tschechischsprachige Werke in allen Sparten der Wissenschaft und Unterhaltung, dazu politische und religiöse Schriften entstanden und wurden durch den Buchdruck schnell verbreitet. 1513 erschien ein lateinisch-tschechisch-deutsches Wörterbuch, 1540 ein Sprachführer, „wie ein Behem (Böhme) Deutsch, desgleichen ein Deutscher behemisch (böhmisch) lernen sollt“. Die Kultur der Stadtbevölkerung und des Adels war in der Tat mehrsprachig.
Durch die Reformation in Deutschland erweiterte sich der Religionskonflikt von den Böhmischen Ländern auf das ganze Reich und führte schließlich in den Dreißigjährigen Krieg. Die Niederlage im Schmalkaldener Krieg 1546-47 endete für die rebellierenden böhmischen Städte, darunter viele deutsch geprägte wie Saaz, Laun, Kaaden, Klattau und Leitmeritz, mit dem Verlust ihrer Privilegien.
Die Niederlage der protestantischen Partei unter Friedrich V. von der Pfalz in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag (1620) gegen die Kaiserlichen führte nicht nur zur Aufhebung der Religionsprivilegien, sondern zu weitgehenden Konfiskationen und zur Verbannung des aufständischen böhmischen Adels – und keineswegs nur des tschechischsprachigen. Unter den 27 hingerichteten Aufrührern (1621) waren zehn Deutsche, während die Opfer des Prager Fenstersturzes von 1618 Tschechen gewesen waren. An die dreißigtausend Familien sollen damals Böhmen verlassen haben, zwei Drittel des Grundbesitzes kam in neue Hände. Weder die Exilierung noch die Neueinbürgerung von Adeligen und Handwerkern folgte nationalen Kategorien. Die Schlacht am Weißen Berg ist deshalb zu unrecht als nationaltschechische Niederlage gedeutet worden. Sie war eine Katastrophe für das protestantische Böhmen beider Sprachen.
Die Böhmischen Länder gehörten vor 1618 zu den dichtest besiedelten Gebieten Europas. Nach dem „Großen Krieg“ hatten sie mehr als ein Drittel ihrer Einwohner verloren, ein Drittel aller Höfe lag wüst. Es dauerte über ein Jahrhundert, bis der alte Besiedlungsstand wieder erreicht war. Waren es nach den Hussitenkriegen Protestanten gewesen, die in dem entvölkerten Land eine neue Heimat fanden, so kamen jetzt hauptsächlich Katholiken, oft Flüchtlinge aus protestantischen Fürstentümern, denn bis zum Toleranzpatent von 1781 bekamen in Böhmen nur Katholiken Bürgerrecht und Ämter.
Die neue Siedelwelle breitete sich von Deutschland aus vornehmlich an der böhmischen Nordgrenze aus. Die Siedler aus Sachsen verschmolzen aber in der Folgezeit nicht mit den anderen Deutschböhmen zu einer einheitlichen Sprach- und Kulturgruppe, sondern blieben weitgehend isoliert. Um 1700 machte der Anteil der Deutschsprachigen in Böhmen und Mähren schon über ein Fünftel aus. Bis zum 1. Weltkrieg stieg er auf fast ein Drittel an.
Die böhmische Großmachtpolitik brachte es mit sich, dass die Tschechen zeitweise – so unter Kaiser Karl IV. – in ihrem Königreich eine Minderheit bildeten. Trotzdem konnte sich Tschechisch als europäische Kultursprache gut behaupten. Während des 16. Jahrhunderts diente es sogar als Verkehrssprache (lingua franca) in Ostmitteleuropa. Im Laufe der nächsten drei Jahrhunderte verlor es jedoch an Bedeutung. das hatte keine nationalistischen, sondern rationalistische Gründe. Das zentralistische Staatsverständnis der Habsburger verlangte nach einer reichsweiten Verwaltungssprache, und das konnte nur die Mehrheitssprache Deutsch sein. Deutschkenntnisse wurden zur Voraussetzung für höhere Bildung und sozialen Aufstieg. Seit 1774 unterrichte man in den böhmischen Lateinschulen auch Deutsch. Die Juden, die oft nur Jiddisch beherrschten, mussten ihre Geschäftsbücher in Hochdeutsch führen. Die ständische Verwaltung, bisher ein Hort der tschechischen Sprache, wurde zunehmend mit königlichen Beamten durchsetzt, die meist deutschsprachig waren. Der tschechische Graf Kinsky warb für Deutsch auch als Literatursprache. Gleichwohl forderte Kaiserin Maria-Theresia den deutschen Adel auf, seine Kinder „das Böhmische“ erlernen zu lassen. 1775 wurde in Wien ein Lehrstuhl für tschechische Sprache und Literatur eingerichtet.
Im 19. Jahrhundert mehrten sich jedoch die Stimmen in Böhmen, die sich gegen eine „Germanisierung“ aussprachen. Man erinnerte sich nicht nur der großen tschechischen Literatur, sondern auch an eine Geschichte, in der die Deutschen vor allem als Feinde der Tschechen vorkamen.
Dabei wurde auch der Hussitismus, der bis vor kurzem noch staatlich verfolgt wurde, in romantischer Weise verklärt und nachträglich zur nationalen Sache stilisiert. Die meisten dieser frühen Nationalisten kamen aus mittelständischen Familien, es waren aber auch deutsche Intellektuelle aus „besseren“ Familien darunter. Besonders Eifrige stammten aus germanisierten Familien mit eingedeutschtem Namen. Dabei widersprach sich ein böhmischer Patriotismus nicht unbedingt mit einem österreichisch-habsburgischen. Auf deutschböhmischer Seite entwickelte sich gegen Ende des Jahrhunderts ein militanter, mit Antisemitismus verbundener Nationalismus, der nichts Gutes verhieß. Er war freilich, wie in Deutschösterreich und im Deutschen Reich, noch in der Minderheit. In dieser Zeit kam auch der Begriff „sudetendeutsch“ als Sammelbegriff für alle Deutschsprachigen in Böhmen auf, ungeachtet ihrer teilweise sehr unterschiedlichen Dialekte und kulturellen Traditionen.
Mit dem Ende des zweiten „Großen Krieges“, dem ersten Weltkrieg, kehrte sich das Verhältnis der Volksgruppen im ehemaligen Königreich Böhmen um. Die Deutschsprachigen, bisher Teil des deutschösterreichischen „Herrenvolks“, wurden 1918 zur Minderheit und Opfer einer nicht immer gutwilligen Minderheitenpolitik in Prag. Aus hochgemutem Patriotismus war auf beiden Seiten ein kleinherziger Nationalismus geworden. Immer wieder hatten deutsche Herrscher ihren deutschen Untertanen in Böhmen geraten, die Sprache ihrer tschechischen Mitbürger zu lernen. Doch die Deutschböhmen hatten dies aus Bequemlichkeit oder Hochmut unter der Habsburgerherrschaft versäumt. Kulturell und politisch war es sehr wohl zur Anpassung und gegenseitigen Befruchtung gekommen, aber die Sprachbarriere verhinderte in Zeiten der Nationalstaatlichkeit ein Miteinander, wie es die Schweiz entwickelt hatte.
Die zwanzig Jahre bis 1938 waren dann auch zu kurz dafür. Die tschechisch-slowakische Mehrheit forderte eine Anpassung, die die Deutschen so schnell nicht leisten konnten oder wollten. Vielmehr sahen sie sich plötzlich Ungerechtigkeiten ausgesetzt, wie sie die Tschechen im Habsburgerreich lange ertragen hatten. Sie begannen sich zum „Reich“ hin zu orientieren – nicht zum verlorenen Habsburgerreich, sondern zu einem „Großdeutschland“, das ihnen eigentlich politisch und kulturell fremd war. Dass dort 1933 ein „starker Mann“ auftrat und sich zum Retter der “Sudetendeutschen“ aufspielte, wurde ihnen zum Verhängnis. Es führte zur fast vollständigen Vertreibung der Deutschböhmen und beendete das neunhundertjährige Zusammenleben von Deutschen und Tschechen auf schreckliche Weise.
Dr.Phil. Andreas Kalckhoff, Pressesprecher des Fördervereins Saaz/Žatec e. V.
nächste Seite: Der Weg nach München