Am 1. Oktober 1938 und auch in den folgenden Tagen rückten deutsche Soldaten in das zuvor von der Tschechoslowakei geräumte Sudetenland ein. Damit hatte Adolf Hitler seine ersten wichtigsten außenpolitischen Ziele – den „Anschluss“ Österreichs und des Sudetenlandes an das neue „Großdeutschland“ viel früher als geplant und ohne Krieg erreicht.
„Überall an den Straßen und Ecken stehen jetzt die Menschen, die uns freudig zuwinken. Doch es geht immer weiter. In Grulich, der ersten Stadt hinter der Grenze, begeisterter Empfang. Mit angezogenem Gewehr geht es wieder am General vorbei. Dicht gedrängt stehen die Menschen auf dem Marktplatz, kaum daß die Musik von den Heilrufen der Bevölkerung zu hören ist. Das ist keine leere Begeisterung. Das ist wahre Freude. Freude, wie sie wohl noch keiner von uns erlebt hat, und es wird uns dabei so ganz anders.“ (Aufzeichnungen aus dem Tagebuch des Wehrmachtssoldaten Herbert Wetzig 1914-1942, aus Friedland/ Nieder-Lausitz, DHM-Bestand)
Im April 1943 zählte die NSDAP-Sudetenland rund 527.000 Mitglieder. Damit waren, gemessen an der Bevölkerungszahl und im Vergleich zum gesamten Reichsgebiet überproportional viele Menschen im Gau Parteimitglieder. Die SA zählte 1939 bereits rund 160.000 Mitglieder. Dies bedeutete zwar nicht, dass all diese Menschen fanatische Nationalsozialisten waren. Doch viele der Beitrittswilligen hatten den Pogrom gegen die Juden im November 1938 erlebt, sie hatten gesehen, wie im Oktober 1938 sudetendeutsche Sozialdemokraten und Kommunisten verhaftet wurden. Die hohen Mitgliederzahlen und andere Bekundungen der Zustimmung zum NS-Regime wurden also erreicht, als der nationalsozialistische Terror für jeden Bewohner des Gaues offensichtlich war. Man sorgte sich offensichtlich weniger um die Unterdrückung und hoffte stattdessen auf die möglichen sozialen Verbesserungen, die durch den „Anschluss“ an das Deutsche Reich lockten. Zudem forderten einheimische Parteifunktionäre Dankbarkeit für diesen „Anschluss“ und schufen damit eine sudetendeutsche Variante der NS-Propaganda, die entsprechend auf die Menschen wirkte.
Die Zerschlagung der Rest-Tschechei, auch „Griff nach Prag“ oder „Erledigung der Rest-Tschechei“ genannt, war im Sprachgebrauch der NS-Propaganda eine militärische Operation, bei der deutsche Truppen am 15./ 16. März 1939 das restliche Staatsgebiet der kurzlebigen „Tschecho-Slowakischen Republik“ besetzten. Nach Androhung der Bombardierung Prags marschierte die Wehrmacht ohne Gegenwehr ein. Auf einen Erlass Hitlers hin wurden Böhmen und Mähren, die bereits durch die Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich um ihre mehrheitlich deutsch besiedelten Gebiete verkleinert worden waren, zum „Reichsprotektorat“ mit deutscher Gerichtsbarkeit. Die Slowakei wurde auf Druck Hitlers ein formell unabhängiger Staat, außenpolitisch aber ein Vasallenstaat „Großdeutschlands“.
Bereits beim „Anschluss“ Österreichs und des Sudetenlandes an das Deutsche Reich 1938 und nach der Besetzung von Böhmen und Mähren wurden Einsatzkommandos beziehungsweise Einsatzgruppen eingesetzt, die sicherheitspolizeiliche und nachrichtendienstliche Belange wahrzunehmen und die „Säuberung der befreiten Gebiete von marxistischen Volksverrätern und anderen Staatsfeinden“ („Völkischer Beobachter“ vom 10. Oktober 1938) durchzuführen hatten. Gemeint war das Suchen und Ermorden von oppositionellen Personen ohne Einhaltung rechtlicher Normen und Kontrollen.
Trotzdem demonstrierten am 28. Oktober 1939, dem Jahrestag der tschechoslowakischen Unabhängigkeit, in Prag mehrere Tausend Studenten gegen die deutsche Besatzung. Dabei wurde der Medizinstudent Jan Opletal von einer Kugel schwer verwundet und starb am 15. November 1939 an seinen Verletzungen. Sein Tod löste schwere Unruhen aus. Daraufhin wurde die tschechische Karlsuniversität in Prag am 17. November 1939 geschlossen, über 1.200 tschechische Studenten wurden im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert.
Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, wurde 1941 zum Stellvertreter des Reichsprotektors von Böhmen und Mähren, Freiherr von Neurath, ernannt. Er erwarb sich durch die brutale Verfolgung des Widerstandes einen Ruf als „Schlächter von Prag“. Nachdem Heydrich am 27. Mai 1942 durch ein Attentat schwer verwundet worden und am 4. Juni 1942 an den Folgen des Attentates gestorben war, erlebte das Reichsprotektorat eine erneute Terrorwelle als Vergeltung für den Mord an Heydrich. 10.000 Tschechen wurden festgenommen, über 1.300 hingerichtet, und der Ausnahmezustand wurde über das Land verhängt. Beim berüchtigten Massaker von Lidice (Liditz) am 10. Juni 1942 machte die SS die ganze Ortschaft dem Erdboden gleich und brachte alle männlichen Einwohner um. Drei Wochen später wurde der Ausnahmezustand wieder aufgehoben, die Standgerichte zur Aburteilung verdächtiger Personen blieben jedoch weiterhin im Amt.
Die Tschechen im Protektorat verloren, obwohl ihnen in einem Hitler-Erlass beschränkte Souveränität mit eigenem Staatsoberhaupt und Autonomie in Verwaltung, Rechtsprechung und Kultur zugesagt worden war, in Wirklichkeit ihre Selbstständigkeit in jeder Hinsicht. Was ihnen drohte, war an der rabiaten Schulpolitik der Nationalsozialisten im Sudetengau abzulesen, die tschechischen Kindern eine weiterführende Ausbildung verwehrte. Letztendlich sollten Sprache und Kultur der Tschechen vernichtet werden. Die Umvolkungspläne scheiterten indes am Kriegsverlauf und am Bedarf an tschechischen Arbeitskräften. Aufgrund seiner gut ausgebildeten Arbeiterschaft und seiner hochentwickelten Industrie lieferte das Protektorat einen erheblichen Beitrag zur deutschen Kriegswirtschaft. Dies zwang zu einer moderaten Politik gegenüber den Tschechen – trotz Protesten der Tschechenfeinde im Sudetengau. Es zeigte sich aber, dass bei grundsätzlichen politischen Entscheidungen die obersten Reichsbehörden am längeren Hebel saßen. Gleichwohl traf sie dieses nur aus Kalkül zugunsten der Tschechen im Protektorat.
Der Prager Aufstand gegen die Deutschen begann während des Anmarsches der Roten Armee und der Amerikaner am 5. Mai 1945. Die Protektoratsregierung, immerhin noch von 80.000 Soldaten der Heeresgruppe Mitte, mehreren SS-Divisionen und zentralen Gestapo-Dienststellen beschützt, wurde am 8. Mai gestürzt. Am folgenden Tag marschierten sowjetische Truppen in Prag ein.
nächste Seite: Die Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland