Reichenberg | Liberec

Rathaus in Reichenberg, historische Ansichtskarte (Foto: Privatarchiv)

Reichenberg war während der deutschen Besatzung der Tschechoslowakei die Hauptstadt des Reichsgaues Sudetenland und erhielt später die offizielle Bezeichnung „Gauhauptstadt“. An der Spitze der Verwaltung des Territoriums stand der Reichsstatthalter Konrad Henlein. Die Dichte der Funktionäre der NSDAP und Hitlertreuen war hier besonders groß. Es gab hier aber auch viele deutsche Kommunisten und Sozialdemokraten, also Antifaschisten, die dem tschechoslowakischen Staat treu ergeben gewesen waren. Dies führte zu spezifischen Konfliktsituationen, und die Atmosphäre während der Befreiung durch die Rote Armee, das nachfolgende tschechoslowakische Armeekorps und die Revolutionsgarden war sehr polarisiert.

Eine Frau wartet vor den Rathaus in Reichenberg auf die Abschiebung (Foto: Staatliches Bezirksarchiv Reichenberg)

Der Augenzeuge Emil Breuer berichtete (Auszug): „Am 9. Mai 1945 zogen am Vormittag die Russen in Reichenberg ein. Gegen Mittag bombardierten russische Flieger die Stadt ohne jeden Anlass und griffen mit Bordwaffen die auf den Straßen dahinziehenden Flüchtlingskolonnen und sonstigen Passanten an. Russische Soldaten drangen in die Häuser ein und plünderten Geschäfte und Wohnungen. An den Plünderungen beteiligten sich besonders die inzwischen nach Reichenberg gekommenen Tschechen. Mit Lastautos fuhren sie nachts vor einzeln stehenden Villen vor, bedrohten die Bewohner mit Schußwaffen und schleppten fort, was ihnen wertvoll erschien. Gleichzeitig begann die tschechische RG (Revolutionsgarde) ihr unheilvolles Treiben. Auf der Straße, auf dem Wege zur und von der Arbeit, wurden die Deutschen angehalten, der Uhren und Schmucksachen beraubt, geprügelt und in Keller gesperrt, aber auch verschleppt. Gelegentlich zwang man sie, auch Schuhe und Strümpfe auszuziehen und barfuß zur Arbeit zu gehen. So wurden eines Tages gegen Ende Mai früh gegen 7 Uhr am Reichenberger Tuchplatz alle Passanten angehalten, aus der Straßenbahn herausgeholt, der Schuhe und Strümpfe beraubt und dann viele Männer an die Wand gestellt. Es gab zwei Tote. Die anderen verdankten ihr Leben dem Eingreifen eines russischen Obersten, der dieses „tschechische“ Verfahren einstellte …“

 

Emil Breuer, Bericht vom Juli 1948 (Dokument Nr. 279). In: Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen. Hg. von der Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung sudetendeutscher Interessen. München 1951

Bericht des Staatssicherheitsdienstes (StB) in Reichenberg vom 1. August 1947 über die „Nachrevolutionsereignisse“ von 1945, die Tätigkeit der Revolutionsgarden (RG) unter Führung von Pavel Hložek und der „polizeilichen Einheit“ von Rudolf Rokoš:

„In der Zeit um den 20. Mai 1945 kam nach Reichenberg die Gruppe der Revolutionsgarde aus Jung Bunzlau (Mladá Boleslav) unter der Führung des akademischen Malers Pavel Hložek. Diese wuchs von der anfänglichen Zahl von 25 Partisanenkämpfern  auf 1.300 Personen. Hložek wurde zum Oberleutnant der RG ernannt und befehligte die Einheit in militärischer Manier. Es zeigte sich bald, dass es notwendig sein würde, eine eigene Abteilung für Hausdurchsuchungen und polizeiliche Maßnahmen wie Verhaftungen zu gründen. Infolge dessen gründete Hložek eine sogenannte „polizeiliche Einheit“, mit deren Führung er Rudolf Rokoš beauftrage und ihn zum Oberleutnant ernannte.

Als charakteristisch für die Art des Auftretens bei Maßnahmen in der Öffentlichkeit ist die Aktion einer Gruppe der Revolutionsgarde am zweiten Tag nach ihrer Ankunft in Reichenberg anzuführen.

Es wurde eine Säuberung und Personenkontrolle auf dem am meisten frequentierten Marktplatz von Reichenberg durchgeführt, dem ehemaligen Tuchplatz, heute Klement-Gottwald-Platz. Hier kam es zu grundlosen Gewalttaten an Deutschen. Angeblich kam es in wenigen Fällen auch zu Erschießungen von Deutschen auf der Straße. Aufgrund des zeitlichen Abstandes kann man Einzelheiten dieser Maßnahmen nicht mehr feststellen. Dieser Fall, der unbegründet und grob durchgeführt wurde, erregte ungünstige Reaktionen in der tschechischen Öffentlichkeit. Das Vorgehen der RG wurde beendet mit dem direkten Einschreiten des örtlichen Kommandanten der sowjetischen Armee, Major Lykov, der persönlich erschienen sei  und einen strikten Befehl gegen dieses Vorgehen erteilt habe.“

ABS-Ka, f. A 2/1, kart. 56, i.j. 1765

Vorbereitung der Abschiebung der Deutschen vor dem Rathaus in Reichenberg (Staatliches Bezirksarchiv Reichenberg )

Brief des deutschen Kommunisten Rudolf Weber aus Reichenberg an den Generalsekretär der KPČRudolf Slanský, über die Sicherheitszustände in der Stadt vom 1. Juni 1945 (Auszug): „Aus dem Innenministerium wurde die Revolutionsgarde unter dem Befehl von Dr. Rokoš (angeblich Mitglied der KPČ) nach Reichenberg zu Zwecken der Säuberung des Gebietes von Reichenberg von faschistischen Feinden des Staates angeordnet. Dieser offizielle Repräsentant der bewaffneten Macht respektiert nicht die gesetzlichen Erlasse des Innenministeriums zum Schutze der früheren tschechoslowakischen Bürger, die aktiv auf der Seite des tschechischen Volkes gegen die Okkupanten Hitlers kämpften und deswegen jetzt unter dem Schutz des tschechischen Volkes stehen. Seine Losung ist »Alle Deutschen raus«. Offen deklariert er: »Wir pfeifen was auf den Befehl des Innenministeriums, die Macht sind wir selbst, niemand kann uns etwas befehlen, jeder Kommandant handelt auf eigene Faust und Rechnung«. Es werden eigenmächtige Hausdurchsuchungen durchgeführt, es wird geplündert, geraubt und vergewaltigt. Die Revolutionsgarden verkörpern nicht die Revolutionsordnung, sondern durch das Verhalten einzelner die Anarchie, was geduldet wird.“

Aus: Adrian von Arburg /Tomáš Staněk (hg.), Dokumente aus tschechischen Archiven, Band II. 1.: Die Aussiedlung der Deutschen und der Wandel des tschechischen Grenzgebiets 1945–1951. Prag 2011

Bewachung der Deutschen während der Abschiebung in der Albrechtstraße (Zbrojovská) in Reichenberg (Foto: Staatliches Bezirksarchiv Reichenberg)

Mord in der Ehrlichstraße Nr. 26 in Reichenberg. „In der Nacht vom 20. Juni 1945 wurde in der Ehrlichstraße Nr. 26 ein achtfacher Raubmord von unbekannten Tätern begangen. Die Mörder müssen in einer größeren Gruppe gearbeitet haben. Mit einem elektrischen Kabel erwürgten sie Frau Marie Kaiser (geb. *1913), Marie Streubel (*1914) und ihre kleinen Töchter Hannelore (*1943), Ingrid (*1939) und Jana (*1940), Frau Emilie Meissner (*1872), Frau Elisabeth Rotter (*1923) sowie Emilie Rotter (*1896), die Ehefrau von Ing. Rotter, die mit einem Hackenschlag am Kopf erschlagen wurde. Kurze Zeit vorher wurde Ing. Rotter von unbekannten Tätern aus der Wohnung entführt. Die damaligen Untersuchungen der Kriminalabteilung führten zu keinen Ergebnissen über die Täter. Heute, mit einigem zeitlichem Abstand und neuen Erkenntnissen, scheint der begründete Verdacht wahrscheinlich, dass diese Mörder in den Reihen der Revolutionseinheiten zu suchen sind; insbesondere in der polizeilichen Abteilung der RG aus Reichenberg, die von Rokoš befehligt wurde. Nach Zeugenaussagen war Ing. Rotter in der Gruppe von 17 Deutschen, die bei Untersuchungen von der Abteilung Rokoš im Juni 1945 der Kampfgruppe »Skuteč« zum Zweck der Liquidation übergeben und in der Nähe des Erholungshauses »Smědava« hingerichtet wurden. Bei der Exhumierung der Hingerichteten konnte aber die Identität von Ing. Rotter nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Aufgrund dieser negativen Ergebnisse der Untersuchung ist der Fall aus der Sicht der hiesigen Kriminalabteilung nicht mehr behandelt worden.“

Bericht des Staatssicherheitsdienstes (StB) in Reichenberg vom 1. August 1947, ABS-Ka, f. A 2/ 1, kart. 56, i. j. 1765

nächste Seite: Podersam | Podbořany