Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland

Einzug der Wehrmacht in Oktober 1938 in Saaz (Bundesarchiv)

Der ‚Anschluss‘ Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 bedeutete auch für das Sudetenland eine Zäsur. Die Sudetendeutsche Partei bekannte sich Ende April offen zum Nationalsozialismus und bezog nun auch zur ‚Judenfrage‘ eindeutige Position, indem sie einen ‚Arierparagraphen‘ in ihre Satzung aufnahm. Die Politik der SdP orientierte sich fortan unverhohlen am Dritten Reich. Die Partei richtete ihre Strukturen an den entsprechenden Organisationen der NSDAP aus. Die SdP wuchs rasch, bis sie im Juli 1938 schließlich mehr als 1,3 Millionen Mitglieder zählte. Dem Eindruck einer kaum noch aufzuhaltenden Bewegung konnten sich nur noch wenige Menschen entziehen.

Seit März 1938 kam es regelmäßig zu Ausschreitungen gegen Juden, Tschechen und sudetendeutsche Demokraten. Hieran waren häufig Mitglieder der SdP federführend beteiligt. In einigen Orten forderten sie Juden unter eindeutigem Hinweis auf die Exzesse in Österreich auf, ihren Besitz zu verkaufen und zu fliehen. Es handelte sich um die sudetendeutsche Variante des ‚Kampfes um die Straße‘. Eine friedliche Konfliktlösung stand für Henlein und seine Partei nicht mehr auf der Agenda.

Einmarsch des sudetendeutschen Freikorps in Teplitz-Schönau (Privatarchiv E. Vacek)

Im September 1938 kulminierte mit der Sudetenkrise schließlich auch der Druck auf die Juden. Die dann folgenden Demonstrationen und Ausschreitungen besaßen den Charakter einer Kampagne. Übergriffe waren nun an der Tagesordnung. Viele Juden sahen sich im September 1938 zur Flucht nach Innerböhmen gezwungen; ein Indiz dafür, dass sich die jüdische Bevölkerung im Sudetenland zu diesem Zeitpunkt bereits weitgehend isoliert und schutzlos sah. Viele Sudetendeutsche nahmen die Verfolgung ihrer jüdischen Nachbarn aus „gruppenegoistischen Motiven“ bereitwillig und gleichgültig in Kauf. Von den ursprünglich etwa 24 500 Juden auf dem Gebiet des späteren „Reichsgaus Sudetenland“ waren bis Ende September Tausende geflohen. Die ersten Orte deklarierten sich bereits unverhohlen als „judenfrei“.

Das „Münchener Abkommen“ bestimmte das weitere Schicksal der Menschen im Sudetenland. Mit der Wehrmacht waren Einsatzkommandos des Sicherheitsdienstes der SS in die Sudetengebiete eingerückt. Diese trugen mit Hilfe der SdP zusammengestellte Gegnerlisten mit sich, auf deren Grundlage zahlreiche Menschen verhaftet wurden. Schon nach wenigen Tagen weitete sich der Terror auch auf die Juden aus.

Der Pogrom mündete in einer weiteren Flucht- und Vertreibungswelle. Teilweise mussten Juden unter Zwang Erklärungen über eine freiwillige Ausreise binnen weniger Tage unterzeichnen. Den Erfolg ihres Vertreibungsdruckes konnten Gestapo, Partei und Behörden den dürren Zahlen der Volkszählung des Großdeutschen Reiches vom 17. Mai 1939 entnehmen: Zu diesem Zeitpunkt konnten im Reichsgau Sudetenland nur noch rund 2 400 Juden, etwa ein Zehntel ihrer ursprünglichen Zahl, registriert werden. Kaum ein anderes Gebiet des Reiches war Ende 1938 in einem ähnlichen Maße ‚judenrein‘ geworden wie der Sudetengau. Ende 1938 waren die Juden im Sudetenland daher fast vollständig entrechtet. In Saaz waren 1935 noch 981 Juden, im Mai 1939 nur noch 91 (Rassenjuden).

Vor dem Abmarsch zum Transport versammelte Juden, Pilsen, Archiv der Gedenkstätte Theresienstadt

Es entfachte sich rasch ein Verteilungswettkampf um die etwa 4 000 bis 5 000 jüdischen Betriebe. Die ‚Judenpolitik‘ ermöglichte den „Ariseuren“ das berufliche Fortkommen. Man musste somit kein Antisemit sein, um an der wirtschaftlichen Verfolgung teilzuhaben. Der Erwerb eines jüdischen Unternehmens und die rassistische Politik des NS-Regimes standen daher in einem unmittelbaren Zusammenhang.

Kommt man an diesem Punkt auf die zentrale Frage nach den Verantwortlichen zurück, ist festzuhalten, dass die Vorbereitung und Umsetzung der Deportationen der Juden und politischer Gegner der Nationalsozialisten auch im Sudetenland ohne einen breiten Kreis von Mittätern kaum hätte realisiert werden können. Die Durchführung der Verbrechen hätte nie gelingen können, wenn nicht wie überall im deutschen Herrschaftsraum regionale Erfüllungsgehilfen mitgearbeitet hätten.

Tatsächlich rief erst die Einführung des ‚Judensterns‘ wieder eine merkliche Reaktion der Bevölkerung auf die ‚Judenpolitik‘ des Regimes hervor. Es machte ein Spruch die Runde: „Wir wollten unser Recht, jetzt geschieht uns recht“. Die Masse aber blieb in einer breiten Grauzone der Indifferenz haften. Im Kern unterschied sich das Verhalten der nicht-jüdischen Bevölkerung im Sudetenland damit kaum von jenem der Menschen in anderen Teilen des Reiches. Ihr verbrecherischer Charakter war kaum noch zu übersehen. Dies war leider auch in fast ganz Nordböhmen so.

Literatur: Jörg Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland 1938-1945, Verlag Oldenbourg München 2006

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