Als Wilde Vertreibung bezeichnet man die angeblich unkoordinierte „Abschiebung“ (odsun) der deutschen und ungarischen Minderheit unter teilweise unmenschlichen Bedingungen, die erst im Herbst 1945 durch einen „Transfer“ abgelöst wurde, der mit den Worten von Edvard Beneš „human, anständig, richtig, moralisch“ sein sollte. In Wirklichkeit kam es zu diesen Übergriffen und Massakern keineswegs außerhalb der Kontrolle verantwortlicher Staatsorgane. Die systematische Planung und zentrale Leitung der Aussiedlungsaktionen „von oben“ spielte in den ersten Nachkriegsmonaten des Jahres 1945 eine wichtigere Rolle, als man ihr bisher zuschrieb. „Wild“, „spontan“ oder „nicht organisierte“, wie später behauptet, waren sie zu keiner Zeit.
Noch im Exil hatte Beneš versucht, die Briten und Amerikaner von der Notwendigkeit eines „Transfers“ der Deutschen zu überzeugen. Als Argumente dienten ihm die angebliche Gewaltbereitschaft des tschechischen Volkes und der Schutz der Deutschen vor Massakern. Die westlichen Verbündeten waren in dieser Frage erst zurückhaltend, aber im Juli 1942 stimmten die Briten schließlich zu und erklärten das Münchner Abkommen für ungültig. Im Mai 1943 schloss sich Roosevelt dieser Meinung an. Gegen Ende des Krieges ging es dann nicht mehr nur um „Transfer“, sondern um Rache. In einem Aufruf der Kaschauer Regierung vom 17. April 1945, der vom Moskauer und Londoner Rundfunk gesendet wurde, hieß es unter anderem: „Rechnet mit den Deutschen alle ihre Gräueltaten ab und habt kein Mitleid mit den deutschen Mördern. Dasselbe gilt erbarmungslos für die Verräter des Volkes und der Republik.“
Zwischen Deutschen und Sudetendeutschen wurde dabei kein Unterschied gemacht. Die sofortige Festnahme aller Deutschen, die nach dem Münchner Abkommen in die (jetzt wiederhergestellte) tschechoslowakische Republik gekommen waren und solcher, die Henlein und die nationalsozialistische Ideologie aktiv unterstützt und Verbrechen gegen das tschechische und slowakische Volk begangen hatten, stand jetzt auf der Tagesordnung. Die Kommunisten verlangten darüber hinaus nicht nur die Volksverwaltung des feindlichen Eigentums, sondern die Rückgängigmachung der Konfiskationen nach der Schlacht am Weißen Berg 1621, die angeblich den Deutschen zugute gekommen waren. Hier wurden uralte historische Rechnungen aufgemacht, aber es ging auch um Aktuelleres: Seit 1938 war es nicht nur im Sudetenland, sondern auch im Protektorat Böhmen und Mähren zu einem nicht unerheblichen Zuzug von Reichsdeutschen gekommen. Das waren nicht nur Wehrmachtsoffiziere, NS-Funktionäre und SS-Leute, die sich in repräsentative Wohnungen einquartiert hatten, sondern auch Geschäftsleute mit ihren Familien, die in dieser blühenden Industrieregion ihr Glück versuchten. Dazu kamen Bombenflüchtlinge aus dem „Altreich“ – alleine in Prag hatten etwa 100.000 Reichsdeutsche Schutz vor den Bombenangriffen in Deutschland gesucht. Ab Herbst 1944 nahm auch die Zahl der deutschen Kriegsflüchtlinge aus dem Osten und Südosten gewaltig zu und wuchs bis Kriegsende auf schätzungsweise eine Million Menschen.
Staatspräsident Dr. Edvard Beneš, der Anfang April in Kaschau nur vom Aufbau des tschechoslowakischen Staates gesprochen hatte, schlug am 28. April 1945 im slowakischen Poprad einen anderen Ton an: „Unsere erste Aufgabe wird es sein, diesen Staat vom Faschismus und den Nazis zu säubern, von Deutschen und Ungarn, und dies ohne Gnade, mit allen daraus resultierenden Folgen.“ Bei seinem ersten Auftritt auf tschechischem Boden in Brünn am 12. Mai 1945 wurde er noch deutlicher: „Jetzt fangen wir mit der Arbeit an, wir werden in Brünn Ordnung mit den Deutschen und allen anderen schaffen (lauter Beifall). Mein Programm ist es, und ich verheimliche dies nicht, dass wir die deutscher Frage in der Republik beseitigen werden.“
Vier Tage später, bei seiner Ankunft in Prag am Altstädter Ring, formulierte er noch schärfer: „Es wird notwendig sein, vor allem die Deutschen in den böhmischen Ländern und die Ungarn in der Slowakei kompromisslos zu beseitigen, so weit wie eine solche Beseitigung im Interesse eines einheitlichen Nationalstaates der Tschechen und Slowaken überhaupt nur möglich ist. Unsere Aufgabe muss die definitive Entgermanisierung unserer Heimat sein, und dies nicht nur auf den Gebieten Kultur und Wirtschaft, sondern auch politisch.“
Anfang Juni 1945 übernahm die tschechoslowakische Armee bis auf wenige Ausnahmen die Vertreibung (Aussiedlung) der deutschen Bevölkerung – nicht nur in Nordböhmen: Schon Ende Mai hatte die Vertreibung im Adlergebirge und in Südböhmen begonnen, und die dortigen „Partisanen“ standen in direktem Kontakt mit dem Verteidigungsministerium in Prag. Armeeeinheiten richteten Konzentrationslager für Deutsche ein, wobei überwiegend Lager benutzt wurden, die von Deutschen für andere Nationalitäten errichtete worden waren. Unter den Lagerleitern und dem Dienstpersonal befanden sich viele Mitglieder und Sympathisanten der Kommunisten. In Marschkolonnen wurden die Deutschen über die Staatsgrenze getrieben. Die Transporte führten ausschließlich in die sowjetischen Besatzungszonen in Sachsen und Österreich und bis etwa Mitte Juni 1945 auch ins polnisch-sowjetisch besetzte Schlesien, da die Führung der Roten Armee damit einverstanden war.
Diese wortwörtliche Vertreibung der Deutschen – etwa 116.000 bis Mitte Juni 1945 – aus den Grenzgebieten wurde in allen Landesteilen, die von der Roten Armee besetzt waren, durchgeführt und sollte auf eine Tageskapazität von 10.000 Menschen erhöht werden. Es kann geschätzt werden, dass in der Phase der sogenannten „Wilden Vertreibung“ circa jeder vierte alteingesessene Deutsche (deren Gesamtzahl betrug rund drei Millionen) aus seiner Heimat vertrieben wurde. Der Mythos, dass es sich dabei um spontane Aktionen im Sinne eines Ausbruchs von Volkszorn gehandelt habe, und dass überwiegend „Revolutionsgarden“ die Täter gewesen seien, findet hinsichtlich der Mehrzahl der Fälle keine Bestätigung in den Akten. Es waren eindeutig Befehle „von oben“, die hier wirksam wurden. Die schnelle Vertreibung der Deutschen unter „Anwendung aller Mittel“, wie Verteidigungsminister General Ludvík Svoboda verlangt hatte, sollte vollendete Tatsachen schaffen, bevor die in Potsdam verhandelnden Staatsmänner der „Großen Troika“ es sich anders überlegen konnten.
Nach der Vereinbarung von Potsdam über den Transfer der deutschen Bevölkerung in die alliierten Besatzungszonen Deutschlands vom 2. August 1945 gab es zahlreiche Proteste der Westalliierten, des Roten Kreuzes sowie unzählige Beschwerden aus der tschechischen Bevölkerung über die Umstände der „Abschiebung“, die in den Ministerien und in der Kanzlei des Präsidenten aufliefen. Daraufhin ging am 16. August 1945 eine Note der tschechoslowakischen Regierung an die Verbündeten, derzufolge der „Transfer“ in Zukunft menschlich, geordnet und unter internationaler Kontrolle erfolgen sollte. Doch erst mit erheblicher Verspätung – im September, teilweise auch erst im Oktober – kam es zu einer Einstellung der Gewaltaktionen.
Quellen: Adrian von Arburg/Tomáš Staněk (hg.): Dokumente aus tschechischen Archiven, Band II, 1: Die Aussiedlung der Deutschen und der Wandel des tschechischen Grenzgebiets 1945–1951. 2011
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