Aussig | Ústí nad Labem

Bewachung der Munitionsfabrik (ehemaligen Zuckerfabrik) im Aussiger Stadtteil Schönpriesen (Krásné Březno) nach der Explosion (Privatsammlung E. Vacek)

Das Kriegsende in Aussig war friedlich. Trotz der nahen Grenze gab es dort keine Kampfhandlungen. Am Tag zuvor, am 7. Mai 1945, hatten ansässige Tschechen und einige Deutsche bereits einen „Nationalausschuss“ gegründet. Diesem unterstellte sich noch in der Nacht die deutsche Polizei. Am Tag des Waffenstillstands dann übergab der bisherige Oberbürgermeister Franz Czermak dem Nationalausschuss nach kurzen Verhandlungen die Leitung der Stadt. Um 14 Uhr informierte eine zweisprachige Meldung im örtlichen Rundfunk die Bevölkerung über diesem lokalen Regierungswechsel. Die Deutschen wurden aufgefordert, weiße Bettlaken als Zeichen der Kapitulation in die Fenster zu hängen. Der Krieg war für Aussig somit zu Ende.

Die friedliche Stimmung täuschte jedoch. Als die „Rote Armee“ am Nachmittag des 9. Mai in die bereits befreite Stadt einzog, schossen SS-Männer auf der Flucht panisch um sich, es gab erste Tote. In den folgenden Monaten – die sowjetischen Soldaten blieben bis Oktober – kam es immer wieder zu Übergriffen gegen die deutsche, aber auch tschechische Bevölkerung von sowjetischen Soldaten, die nach Essbarem und Wertvollem suchten. Noch im Mai 1945 wurden die ersten Deutschen aus der Region über die nahe Grenze nach Sachsen getrieben. Ende des Monats begannen dann registrierte Sammeltransporte mit der Bahn, bei denen Gepäck mitgenommen werden durfte. In diesen Wochen begingen viele Deutsche Selbstmord – 63 waren es laut Aussiger Sterbematrikel vom 9. Mai bis 31. Juli.

Explosion in der Aussiger Munitionsfabrik (ehemaligen Zuckerfabrik) am 31. Juli 1945 (Privatarchiv E. Vacek)

Eine zwanzigminütige Explosion in der ehemaligen Zuckerfabrik im Stadtteil Schönpriesen (Krásné Březno), in der eine Munitionsfabrik untergebracht war, führte zu einem schrecklichen Massaker an der Aussiger Elbbrücke. Dies geschah am Dienstag, den 31. Juli 1945 um 15.45 Uhr. 33 Personen – sechs Soldaten der tschechoslowakischen Armee, ein tschechischer Arbeiter sowie 26 deutsche Männer und Frauen – kamen ums Leben, mehrere wurden verletzt. Bei darauf folgenden Ausschreitungen in der Innenstadt und auf einer der Elbbrücken, von der deutsche Zivilisten in die Elbe geworfen wurden, starben nach Schätzungen tschechischer Historiker 40 bis 100 Menschen. Die deutschen Schätzungen liegen mehr als doppelt so hoch. Für die meisten Deutschen in Aussig kam die blinde Wut der Tschechen überraschend.

Zeichnerische Darstellung des Massakers auf der Brücke in Aussig durch einen Zeitzeugen (Foto: Freundeskreis Aussig)

Bericht des Augenzeugens K. H. aus Prag über den 31. Juli 1945 in Aussig: „Nach Aussig kam ich am 30. Juli zur Schwester meiner Mutter. Da in der Umgebung Obst zu bekommen war, fuhr ich mit einem großen Koffer. Als ich zum Zug ging, hörte ich eine laute Explosion und sah Rauch. Bereits im Zug hörte ich aus der Entfernung Schüsse von Maschinengewehren. Nach Aussig sind wir gegen 16:30 gekommen. Wir erfuhren, dass in der Stadt ein Pogrom gegen Deutsche läuft, die die Explosion verursacht haben sollen. Beim Verlassen des Zuges ging ich zwischen mehreren jungen Menschen, die mich fragten: »Bist du Deutscher oder Tscheche?« Ich sah, wie sie zwei ältere Männer wegschleppten und sie schlugen. Ich konnte nicht begreifen, was los war. Überall waren Stöcke, Krücken, Taschen und mit Blut beschmierte Kleidung, Hüte, Prothesen, abgetrennte Ohren und viel Blut. Ein junger Mann schrie mich an: »Was für einer bist du denn!« Er schrie drohend. Ich stand da und sah das Chaos, da trat ein älterer Herr zu mir und sagte, dass es am schlimmsten hier vor den Bahnhof war, als die Deutschen vom Zug kamen. Ich sah es.

Vom Bahnhof ging ich zur Brücke, von der noch einzelne Schüsse zu hören waren. Vor der Brücke sah ich einen großen jungen Mann mit weißem Hemd und mit Stiefeln, der eine lange Stange hielt, auf deren Ende ein großer Nagel war. Die Stange und sein Hemd waren voller Blut. Er sah mich siegessicher an und prahlte: »Mit der habe ich die Germanen liquidiert.« Die Zahl, die er genannt hat, merkte ich mir nicht. Ich sagte: »Das ist doch furchtbar.« »Was ist furchtbar«, schrie er, »willst du mit ihnen gehen?« In der Nähe sah ich einen Haufen von Frauenkörpern. Eine von diesen gelynchten Frauen hob den Kopf, sah mich mit einem unbegreiflichen und trüben Blick an. Wahrscheinlich war sie schon im Todeskampf. Ich ersuchte einen Zivilisten, mit seinem Gewehr ihr Leiden zu beenden. Es gelang ihm erst beim dritten Schuss. Noch nach dem zweiten hob sie den Kopf und sah mich wieder an. Noch heute sehe ich im Geiste diesen Blick. Auf der Brücke sah ich die Soldaten der Svoboda-Armee. Am Ufer lagen tote Körper der erschossenen Opfer. Wie ich zu meiner Tante kam, weiß ich nicht mehr. Sie sagte mir, dass sie Angst um ihre Nichte hätte. Ich kannte sie nicht. Aber auf einem gerahmten Foto erkannte ich, dass es die junge Frau war, die mich vor der Brücke angesehen hatte. Der Tante habe ich das nicht gesagt.“
(Zeugenaussage aus dem Archiv der Stadt Aussig, deutscher Übersetzung)

Verteidigungsminister Ludvík Svoboda (Foto: Privatarchiv E. Vacek)

Eine Regierungskommission zur Untersuchung der Explosion traf bereits am folgenden Tag in Aussig ein. Sie wurde von General Svoboda und Innenminister Nosek geführt, konnte aber die Ursache der Explosionen nicht ermitteln. Trotzdem erkannte General Svoboda darin eindeutig das Werk des deutschen „Werwolfs“* und erklärte: „Wir müssen ein-für-allemal mit der fünften Kolonne abrechnen. Dabei können wir uns an der Sowjetunion ein Beispiel nehmen, die uns das als einzige vorgemacht hat. Als Beispiel nenne ich den Fall der deutschen Wolga­republik in der Sowjetunion. Als in einer Nacht mehrere Fallschirmspringer dort landeten und diese trotz einer letzten Aufforderung nicht ausgeliefert wurden, hatte sie aufgehört zu existieren und wird nie mehr existieren.“ (Zeitung Předvoj vom 4. August 1945)

Stabskapitän und Abteilungsleiter im Innenministerium Bedřich Pokorný (Foto:Privatarchiv E. Vacek)

Die These, dass die Explosion vom tschechischen Geheimdienst inszeniert war, wird u. a. vom Historiker  Otfrid Pustejovsky (Waakirchen) vertreten. Ihmzufolge war Stabskapitän Bedřich Pokorný der Organisator dieses Verbrechens, Leiter der Abteilung „Z“ im Innenministerium für den politischen Nachrichtendienst, die mit 73 Personen besetzt war, und ein naher Mitarbeiter des OBZ-Leiters Bedřich Reicin. In der Nacht nach der Explosion kam Pokorný nach Aussig, um Verhöre zu durchzuführen. Am 2. August präsentierte er der Presse die Geschichte von einem Explosionssatz („Höllenmaschine“), der von der Organisation „Werwolf“ gelegt worden sei. Er wusste dazu allerlei Details, obwohl am Tatort keine Spuren gefunden wurden.  Der Historiker Adrian von Arburg (Brünn) hält dies für ziemlich unwahrscheinlich, denn es gäbe auch nicht andeutungsweise Belege für Pustejovskys These.

Quelle: Archiv der Sicherheitsinformationen des  Innenministeriums  Fond 304-226-2. Dazu: Otfrid Pustejovsky, Die Konferenz von Potsdam und das Massaker von Aussig am 31. Juli 1945. Untersuchung und Dokumentation. München 2001.

Sicher ist nur, dass Svoboda und Pokorný aus dem Unglück maximalen politischen Profit schlagen wollten. Am 31. Juli 1945 tagten die Siegermächte noch in Potsdam – die Konferenz endete am 2. August – und da konnte die Nachricht über eine Bombenlegende deutscher Freischärler im Sudetenland den Verbündeten die Entscheidung für einen schnellen „Transfer“ der Deutschen erleichtern.

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